Mein Kind übertreibt gerne

Meine Kinder haben es gut bei uns. Sie werden geliebt, geliebt und noch mehr geliebt. Wir geben ihnen zu essen und zu trinken. Sie werden beschützt, wir kümmern uns. Sie haben ein Zimmer, um sich zurückziehen zu können. Sie haben ein Heim. Sie haben Freunde, Spielsachen (viel zu viele!). Sie kennen auch Langeweile und lernen, damit umzugehen. Sie sind ganz normale Kinder, die in einem geschützten Umfeld aufwachsen. Sie dürfen Kinder sein, und ich weiss, dass das nicht allen Kindern so geht.

Meine Kinder haben einen übertriebenen Hang zu Übertreibungen.

Meine Kinder lieben die Show - (c)Fotolia
Meine Kinder lieben die Show – (c)Fotolia

Das liegt wohl an dieser Sorglosigkeit.

Meine Tochter berichtet mir quasi stündlich, an welcher Ecke ihres Körpers wieder etwas ziept. Hier hat sie sich den grossen Zeh etwas angeschlagen (es ist nichts zu sehen) und dort hat sie sich am Knie verletzt (leichte Rötung). Ist ihr Auge kleiner als sonst? (Nein)

Wenn sie sich mit ihrem Bruder (oder mit mir!) streitet, fliegen die Fetzen, sie schreit und brüllt und weint. Ich kann die Wut in ihrem Bauch förmlich als Wolke über ihrem Kopf sehen. Gefühle sind in diesem Alter noch ungefiltert und nicht durch gesellschaftliche Konventionen («man tut das nicht») überdeckt. Das ist anstrengend für uns, aber gut so.

Wenn sie mit mir streitet, versuche ich, sie zu beschwichtigen, zu trösten, ihr aber auch die Reibungsfläche zu bieten, die sie braucht. Aber wenn sich die Kinder untereinander fetzen, bin ich versucht, den Kleinen schützen zu wollen. Ich ermahne die Grosse, nicht so mit ihrem Bruder umzugehen, weil er «doch noch so klein ist».

Bis zu diesem Sommer.

Im Juli erlebte ich nämlich folgendes: Copperfield und LadyGaga wollten gleichzeitig aus der Tür treten. Es gab ein Gemenge, bei dem mein Sohn rückwärts stolperte und dabei über einen grossen Keramikofen fiel. Alles harmlos, es war nichts passiert. Ich schimpfte aber mit der grossen Schwester, weil sie den jüngeren Bruder geschubst hatte. Ich ermahnte sie, achtsamer zu sein.

Mein Sohn sass auf dem Boden und lauschte andächtig. Als ich fertig war, begann er mit einem Mal melodramatisch zu jammern und zu schreien. Er stand auf, schluchzte und heulte und schrie seine Schwester an: «-Aga, -ein!» Was so viel heisst wie «LadyGaga, Nein!» (er verschluckt immer den ersten Konsonanten im Wort, don’t ask…). Er war so wütend auf seine Schwester. Aber erst, nachdem er meine Reaktion abgecheckt hatte.

MOOOOOOOOMENT.

So also läuft der Hase. Copperfield benimmt sich gerne wie ein Fussballer, der nach einer kunstvollen Schwalbe jammernd am Boden liegt. Bis keiner mehr zusieht.

«Copperfield, Du musst Dich gar nicht so aufführen. Wir haben das jetzt geklärt und Du musst hier nicht weiter rumbrüllen.» In der Folge schmollten beide Kinder, war ja klar.

Und so geht es mir immer wieder. Wenn ich dabei bin, balgen sich die Kinder viel mehr. Sie beobachten mich, wollen eine Reaktion zu ihren Gunsten provozieren. Sogar der Kleine, der doch erst süsse 30 Monate alt ist. Mein Schlitzohr. Mein Rumpelstilzchen. Also schlichte ich nur noch zwischen ihnen, wenn es gar nicht mehr geht. Ich versuche, keine Partei zu ergreifen. Wenn sie streiten, trenne ich sie meistens einfach, indem jeder 10 Minuten alleine in seinem Zimmer spielt – oder wir gehen raus und unternehmen etwas gemeinsam. Das klappt ganz gut.

Uns geht es gut

Ich bin froh, dass wir den Kindern den Raum geben können zu übertreiben. Dass sie sich einfach ausprobieren dürfen, ohne Angst vor Konsequenzen. Dass sie sich streiten, anbrüllen und dann auch wieder umarmen dürfen. Denn solange ihre Hauptsorge einem gestossenen Zeh oder dem vermeintlich unfairen Verhalten des Geschwisters gilt, sind die Kinder in Sicherheit.

Ich habe Angst vor einem Dritten Weltkrieg, dass plötzlich nichts mehr so ist, wie es war. Dass meine Kinder plötzlich kein Melodrama mehr für mich spielen, sondern still sind. Einfach still.

1 thoughts on “Mein Kind übertreibt gerne

  1. Dein letzter Absatz hat mich schlucken lassen… Vor drei Tagen sind wir notfallmäßig zum Arzt gerauscht, da meine Tochter (3) urplötzlich 42 Fieber hatte, völlig aphatisch war und kein Fiebersaft anschlug. Als ich dieses glühende Bündel Mensch in meinen Armen hielt, habe ich mich innerlich gescholten, dass ich sie keine 2h vorher angeschnauzt hatte doch bitte nicht so ein Drama zu machen, weil ich ihr den falschen Becher gegeben hatte. Auf einmal wünschte ich mir nichts sehnlicher als meine melodramatische Schauspielerin wieder zu haben (ja, sie ist eine Meisterin der Übertreibung), statt vor Sorge umzukommen.

    Im Endeffekt war es eine akute Angina, welche mit Antibiotika in den Griff zu bekommen war. Und ja, Fieber kann ohne Vorwarnung tatsächlich innerhalb von 30 Minuten so hoch steigen… 🙁

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