Das Tragetuch-Inferno

Zu Beginn direkt ein Geständnis. Ich habe keines meiner Kinder getragen – zumindest nicht im Tragetuch. Auf vielen Blogs und bei Twitterpostings etc. sehe ich, dass europäische Mütter heute ihre Kinder gerne tragen, in Hoppediz, Amazonas, Moby, Fidella, Manduca, Didymos, Storchenwiege, Kokadi, Dolcino…. Die Nähe zum Kind, die gelebte Innigkeit der Mutter-Kind-Beziehung, wird hervorgehoben. Ich habe das immer mit einer gewissen Faszination beobachtet, weil es bei uns so ganz anders ablief und ich mir das eigentlich auch für meine Kinder gewünscht hätte. Doch es kam alles ganz anders…

Storch mit Baby Figur
Das Ideal

Bei einer Voruntersuchung in der Klinik sagte eine Hebamme zu mir, dass viel zu viele Eltern ihr Baby ohne Profitipps im Tragetuch tragen. Das Köpfchen sei dann nicht richtig gestützt und es entstehen Haltungsschäden beim Kind. Als pflichtbewusste und engagierte überdreht-nervöse Erstlingsmama wollte ich das LadyGaga auf keinen Fall antun. Also suchte ich im WWW nach einem Tragetuch-Kurs. Ich wurde fündig und meldete mich und meinen (armen) Mann an. Zwei Kursabende waren vorgesehen, an denen wir in der Gruppe Tragetuchwickelmethoden lernen sollten.

Der Tragetuch Kurs

Es stellte sich heraus, dass wir die einzigen Eltern im Kurs waren. Im Kursraum überall schimmernde Kerzen, es roch nach ätherischen Düften und Räucherstäbchen. Die Wände mit Tüchern verhängt, ertönte Klangschalen-Musik aus Lautsprechern. Es war das gelebte Esoterik-Klischee. Auf dem Boden waren Gymnastikutensilien und Kissen verstreut. In der Mitte des abgedunkelten Raumes standen drei Stühle: zwei zusammen, einer alleine. «Inquisition!», dachte ich in Panik. Wir setzten uns irritiert auf die zwei leeren, kargen Holzstühle, ich übrigens hochschwanger. Die Kursleiterin schwebte durch den Raum und setzte sich strahlend uns gegenüber hin. «Schön, dass Ihr da seid. Warum wollt Ihr Euer ungeborenes Kind in einem Tragetuch tragen?» Sie lächelte uns auffordernd an. «Inquisition!», dachte ich wieder. Und: «Wenn mein Mann jetzt was Blödes sagt, zeigt die uns nie, nie, nie, wie man das Tragetuch richtig bindet und LadyGaga kriegt Haltungsschäden! Mein Kind wird ein Krüppel!» Was man halt so als bald Gebärende im Hormontango denkt.

«Wir wollen, dass unser Kind richtig am Körper liegt und keine Haltungsschäden kriegt. Wir wollen die bestmögliche Mobilität mit unserem Baby», platzte ich heraus.

Die Frau lächelte zufrieden.

Mein Mann sprang auf den Zug auf und doppelte nach: «Und es soll ja so gesund sein.» Die Frau strahlte nun und nahm einen grossen Stapel Präsentationsfolien zur Hand, die sie uns nun eine nach der anderen über eine Stunde lang ausführlich zeigte. Sie erklärte, dass der Mensch als Tragling geboren wird und dass die Frauen in Afrika alle ihre Kinder in Tüchern herumtragen und nur zum Pipi-Machen absetzen. Meine Blase drückte.

Stumm hörten wir zu und dachten wohl jeder das seine. Ich: «Schön nicken, damit wir endlich lernen, wie man dieses Tragetuch richtig wickelt. Nicht, dass die da uns noch rauswirft, weil wir unwürdig sind.» Mein Mann dachte wohl eher: «Eins, zwei, drei, vier…. die Schwangerschaft geht nur noch einen Monat, schön lächeln und durchhalten. Nicht dass ich noch an irgendetwas schuld bin.»

Mein schwangeres, Hormon-gesteuertes Ich verharrte verbissen in einer meditationsartigen Trance. Alles wird gut. Bestimmt.

Gegen Ende der «Unterrichtsstunde» war es dann endlich soweit: Wir umwickelten und verknoteten eine muffige Puppe mittels meterlanger Tücher kunstvoll mit unserem Körper. In der nächsten Sitzung dann auch: von hinten, von vorne, über Kreuz. Es klingt pervers. Und irgendwie war es das auch. Die Theorie ist nämlich eine Sache, aber:

Das Kind macht, was es will

Heute weiss ich: Wir hätten wenn schon, denn nicht an einer Puppe, sondern an unserem Baby üben sollen – mit verschiedenen Tragehilfen. Nachdem LadyGaga geboren war, stellte sich nämlich heraus, dass sie jedes Gefühl von Enge hasste. Pucken? No way! Beim Schlafen mussten die Hände und Arme komplett frei sein. Ich hatte das Gefühl, dass dieses Baby, dieser Freigeist, einfach nur froh war, endlich sein Ding ausserhalb meines Bauches durchziehen zu können. Vom ersten Lebenstag an zeigte sie uns: Ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.

Ihr ahnt es schon: Sie hasste das Tragetuch und fing sofort an zu weinen, wenn wir sie darin tragen wollten. Kurs hin oder her. Und ja: Es war ein gutes, weiches, teures Tragetuch. Aber vielleicht, aus heutiger Sicht, hätte ein Ring Sling besser gepasst? Eine Manduca? ErgoBaby? Ich war zu verbissen in meinem Wunsch nach Perfektion.

Irgendwann gab ich auf und kaufte einen Baby-Björn. Der soll zwar just Haltungsschäden machen. Aber LadyGaga liebte ihn.

Echo der Leserinnen

Über dem Blogbeitrag brütend, fragte ich auf Facebook nach, wer denn ebenfalls kein Tragetuch verwendet hat und warum. Hier das aufschlussreiche Feedback:

Mehrere Leserinnen bestätigten: Das Binden war zu kompliziert (z.B. Christiane, Anna, Kathrin). «Wenn man mal allein ist, ist es unheimlich schwierig, sich 5 Meter Stoff selbst so um den Körper zu wickeln, dass das Kind auch noch rein passt.» (Rebecca)

Andere Mütter haben auch Kinder, die partout nicht im Tragetuch sein wollen (Stefanie, Silke). «Durch unsere Hitze war es uns beiden immer unangenehm, zumal ich mich mit diesen Unmengen an Stoff um mich herum immer sehr eingeengt gefühlt habe und das als sehr einengend und befremdlich empfunden habe.» (Cassy)

Tatsächlich kam es aber vor, dass das Baby eine Babyskoliose bekam, da es immer schief im Tuch lag (Kathrin).

Viele Leserinnen sprechen sich für die ErgoBaby Trage aus, so zum Beispiel Deborah: «Ich hab das ErgoBaby benutzt. War total überfordert mit der Bindetechnik für das Tuch und es fühlte sich so unsicher an, wenn ich es selbst versucht habe. Das Ergobaby hat sich super leicht angezogen und auch mein Mann fand es gut.» Auch die Manduca kommt gut an: «Ich hatte zunächst ein Tuch ausgeliehen. Mir war das aber nicht stabil genug, wenn ich mich bewegt habe, ist der Sohn immer abgerutscht, hing dann unangenehm und ich musste neu wickeln. Haben dann ein Manduca gekauft und mein Mann und ich waren beide super zufrieden damit.» (Cornelia). Leserin Sandra war sogar in einer Trageberatung und sagt: «Zu uns hat die Manduca einfach am besten gepasst.»

Mein Fazit

Ich hätte mich damals besser informieren sollen. Ein theoretischer Tragetuchkurs ist für mich aus heutiger Sicht genauso sinnvoll wie ein theoretischer Geburtsvorbereitungskurs: Im Endeffekt sagt das Kind, wo es langgeht.

Ach und wenn ihr fragt: Copperfield habe ich auch nicht getragen. Seit unserem Eso-Tragetuchkurs stellen sich mir die Nackenhaare hoch, wenn ich nur daran denke. So als wäre ich ein pawlowscher Hund. Jaul. Ich meine: Ommmmmmmmmmm.

6 thoughts on “Das Tragetuch-Inferno

  1. Aaaalso, ich könnte ja jetzt einen Vortrag halten. Es ist so: Ich bin seit 2010 Trageberaterin und gebe diese ominösen Kurse. Zuhause bei den neugeborenen Eltern, mit ihrem Baby. Und dann wird gemeinsam nach der besten Lösung für diese Familie gesucht. Ja, das Tuch ist das Optimum, einfach weil man es – richtig gebunden und korrekt gestrafft – am besten den Körperformen von Träger und Kind anpassen kann. Aber heute gibt es zahlreiche sehr gute Alternativen, ein paar hast Du genannt. Es lohnt sich trotzdem, sich durch das ganze Sortiment einer (markenneutralen!) TB durchzuprobieren, weil: Tragehilfen sind wie Schuhe: Nicht jede passt jedem. Manche sind besser für kleine Leute, andere für grosse, noch andere für breite oder schmale Schultern etc….
    Trageberatung lohnt sich deshalb auf jeden Fall, denn die Dinger sind ja doch recht teuer und ein Fehlkauf ist deshalb sehr frustrierend und kann einem die Sache richtiggehend verleiden.
    Wichtig finde ich auch, die Beratung erst zu machen, wenn das Kind auf der Welt ist. Nur dann kann für die Familie (inkl. Baby) die für sie passende Tragelösung gefunden werden. Natürlich gibt es das theoretische Optimum – aber welches Kind entspricht schon dem Euronorm-Standard-Kind? Es kann beispielsweise medizinische Gründe geben, die machen, dass ein Kind sich nicht einrollen kann/will (Stichwort GOR/Reflux) usw., darauf muss eine Trageberaterin, die ihren Namen verdient, achten und eingehen!

  2. Hallo.
    Schön, dass du so ehrlich bist. Nicht jedes Kind will in einem Tuch getragen werden.
    Zur Geburt meiner Großen hatte ich mir nur wenig informiert und mir eind ErgoBaby mit NeugeborenenEinsatz gekauft. Sie liebte es und lebte darin. Ich bin aber fast gestorben, weil es im Hochsommer doch arg warm wurde. Nach dem ich den Einsatz weg lassen konnte, habe ich fast nur noch getragen und den Kinderwagen selten genutzt. Bei meinem kleinen Knopf wollte ich wieder tragen, diesmal ein Tuch. Daher habe ich enge TrageBeratung in unserm örtlichen Krankenhaus mitgemacht. Fand ich ganz gut, weil ich viele verschiedene TrageSysteme ausprobieren konnte.
    Zum Schluss habe ich mir für ein elastisches Tuch entschieden.
    Und was soll ich sagen?
    Mein kleiner Knopf hasst es. Er mag es überhaupt nicht, wenn der Kopf bedeckt ist, also bin ich wieder auf den Ergo umgestiegen, was er akzeptiert. Ich bin schon ein wenig traurig, weil ich das Tuch schöner fand, er war dichter an mich dran. Aber da geht sein Wohlfühlen definitiv vor meinem.

    Muss das auch noch loswerde ? ich halte so gar nichts vom Baby Björn, weil der Steg viel zu schmall ist und es so zu HaltungsSchäden kommen kann.
    Tut mir leid, aber das kann ich mir nicht verkneifen mt sagen ?

    Ganz lieben Gruß
    Nadine

  3. 1. Kind mit Tragetuch und Sling getragen. Nie auf den Rücken bekommen. Beim 2. sind wir nun beim „Ferrari“ der Tragehilfen gelandet. Ein Luemai für vorne und ein Milamai für den Rücken von Tragebaby. Perfekt. Das schwierigste war erstmal so ein Teil zu ergattern da die bei einer Dhopfüllung oft innert Sekunden weg waren.

  4. Ich bin stolze Besitzerin von Ergo-Baby-Trage, Tuch und Babybjörn – 1. geerbt und ab dem etwa 7. Lebensmonat auch gemocht (vom Großen), 2. zur Geburt geschenkt bekommen (auf eigenen Wunsch hin) und vom großen gehasst und 3. gekauft, weil er das mit dem Gesicht nach vorne ab dem4. Monat als genial empfand – aber am allerhöchsten fand er den Kinderwagen! Der Kleine liebt das Tuch, den Ergo – Hauptsache getragen werden.
    2 Kinder. So unterschiedlich. Nach deinem Post bin ich grad echt froh, nie einen Kurs besucht zu haben!
    LG Anna

  5. Ich habe meine beiden Kinder getragen und wollte es am Anfang eigentlich nicht so unbedingt *hüstel*. Bei Kind 1 war es so, daß er oft, gerade gegen Abend hin, Bauchweh bekam/hatte und wir ewig lange so herum trugen – anstrengend. Dann war ich in einem ziemlich normalen nicht esoterischen Tragetuch-Kurs und es wurde uns zum tragen geraten wegen dem Bauchweh und es lief alles locker ab und wurde uns gezeigt mitsamt Baby. Waren allerdings nur lauter Mamas – der Mann hat nie getragen. Es war für uns ein Segen. Er hat das Tuch geliebt. Wir sind damit sogar Bus gefahren, weil mit Gefährt so extrem umständlich. Kind 1 war aber zB ab 6 Monate beim Binden zu ungeduldig und am Rücken konnte ich es mir absolut nicht vorstellen. Damals kam frisch die Manduca raus – die uns ca. bis zum 1 Jahr und ein paar Mal darüber hinaus begleitete – danach fand das Kind tragen nicht mehr toll. Kind 2 war ein absolutes Schreikind. Kein Kurs mehr. Wir haben ihn sehr sehr sehr viel getragen – ohne wärs nicht gegangen. Mit 6 Monaten Umstieg auf Bondolino da es mir manchmal echt zu umständlich war unterwegs zu binden. Ab ca. 1,5 Jahren wars bei ihm auch vorbei mit tragen obwohl er noch nicht laufen konnte. Manduca mochte unser 2. Kind zB nie so. Bondolino war ihm lieber.

  6. Liebe Séverine,
    ich finde es super, dass du deine Erfahrungen mit dem Tragetuch mit uns teilst. Da muss doch jeder seinen Weg finden. Als ich schwanger war, habe ich mir immer vorgestellt, dass ich so eine richtige „Tragemama“ werde. Unser Sohn ist jetzt 12 Wochen alt und ich habe das Tragetuch am Anfang täglich benutzen müssen weil er sich nur da beruhigen ließ. Jetzt hat er sich aber schnell entwickelt und ist sehr aktiv und nach außen orientiert. Im Kinderwagen zu liegen gefällt ihm jetzt genau so wie das Tuch.
    Aber mir gefällt das Tuch immer weniger, denn der kleine Kerl wiegt jetzt schon 6,5 Kilo und ist mir doch einfach zu schwer, das Tuch drückt auf die Schultern und mein Busen wird von den Seiten eingeengt. Vielleicht gucke ich mich noch nach einer anderen Art zu tragen um, aber ich fühle mich meinem Sohn auch genauso nah wenn er im Kinderwagen liegt, solange es ihm gut geht. 🙂
    lg

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert