Wenn das Kind mit dem Finger auf jemanden zeigt

Wir standen im Einkaufsladen in der Früchte- und Gemüseabteilung. LadyGaga klammerte sich plötzlich an mich und zeigte mit erhobenem Finger auf etwas hinter mir. Reflexartig drehte ich mich um. Und blickte direkt einem Mann ins Gesicht, der offenbar gemeint gewesen war. Gross. Sehr gross. Mächtig im Umfang. Imposant – erst Recht aus der Perspektive einer Fünfjährigen. Mit grauen, wilden Haaren, die in alle Richtungen von seinem Kopf abstanden. Ich sage ja morgens immer, LadyGaga habe ein Vogelnest auf dem Kopf. Ich revidiere: DAS war ein Vogelnest! Aber ein harmloses. Alleine hätte ich einfach dran vorbeigeschaut. So aber war klar, dass ich mich wegen ihm umgedreht hatte. Und LadyGaga hatte demonstrativ mit dem Finger auf ihn gezeigt.

Eine Szene wie aus dem Lehrbuch
Was bringe ich meinen Kindern im Umgang mit Menschen bei? Ich kniete mich didaktisch abgeklärt (öhömm) zu LadyGaga hinunter und sagte gut hörbar zu ihr: «LadyGaga, das ist aber nicht nett von Dir, mit dem Finger auf den Mann zu zeigen. Hast Du Dich erschreckt?» Sie nickte zaghaft.

Mami, weiter im Text: «Der Mann hat Dir doch gar nichts getan. Weisst Du, man zeigt nicht mit dem Finger auf Menschen, das irritiert und verletzt sie. Du willst doch auch nicht, dass jemand mit dem Finger auf Dich zeigt. Da fühlt man sich ganz komisch und wird traurig. Der Mann hat halt….. (nach Worten suchend) viele Haare auf dem Kopf. Aber das muss Dir keine Angst machen.» Sie nickte.

Der Mann hörte uns sozusagen aus dem AugenOhrenwinkel zu. Ich tätschelte LadyGaga am Kopf. «Komm, wir gehen weiter.» «Ich fürchte mich aber trotzdem vor dem Mann!», platzte sie heraus und rannte davon. Ich ging an dem Mann vorbei und lächelte ihm offen, fröhlich, vielsagend und entschuldigend zu. Aus meinem Augenwinkel sah ich, wie er mir aus seinem Augenwinkel zunickte. Ich denke, es war OK für ihn. Hoffe ich. LadyGaga aber wird wohl noch nicht das letzte Mal mit dem Finger auf jemanden gezeigt haben.

Vor kurzem gingen wir an einem Jugendlichen vorbei, der im Rollstuhl sass. LadyGaga blickte ihm interessiert hinterher, ohne zu glotzen. Ich fragte sie, ob sie Fragen habe, aber sie verneinte. Ich erinnere mich, wie wir letztes Jahr in einem Restaurant sassen und am Nebentisch ein behinderter Mann im Rollstuhl sass, der Artikulationsprobleme hatte. Er unterhielt sich aber angeregt mit seinem Essenspartner. LadyGaga platzte plötzlich laut und empört heraus: «Ich kann den Mann einfach nicht verstehen!» Ich erklärte ihr ruhig, dass Sprechen nicht bei allen Menschen so einfach funktioniert wie bei ihr. Damit war das «Problem» dann aber auch schon sprichwörtlich gegessen.

Ihre Freundin Annika erhält logopädischen Stützunterricht, da sie Artikulationsschwierigkeiten hat. LadyGaga hat mich schon irritiert darauf hingewiesen, dass sie ihre Freundin manchmal einfach nicht versteht, weil sie «so komisch spricht». Und wieder erklärte ich meiner Tochter, dass nicht alle Menschen gleich sind und dass es OK ist, wenn Annika noch nicht so gut reden kann – sie könne trotzdem eine tolle Freundin sein. Das versteht meine Tochter.

Es werden noch viele solcher Situationen kommen, und ich möchte meinen Kindern in jedem Moment zeigen: Wir alle leben miteinander und füreinander. Ich glaube an ein gutes Karma, dass Gutes Gutes anzieht. Ich finde es sehr wichtig, meinen Kindern von Anfang an einen respektvollen Umgang miteinander zu zeigen, ohne Scham, ohne Tuscheleien, ohne Angst und ohne Berührungsängste. Wir sollten alle noch viel mehr mit offenen Augen durchs Leben gehen. Damit das klappt, sollten wir unseren Kindern vorleben, dass Fremdes, vielleicht merkwürdig Anmutendes, Anderes, da nicht Konformes, nichts Schlechtes sein muss.



Wie geht ihr damit um, wenn euer Kind mit dem Finger auf Fremde zeigt? Ich bin gespannt auf eure Stories!

7 thoughts on “Wenn das Kind mit dem Finger auf jemanden zeigt

  1. Guter Beitrag und grade aktuell bei uns.
    Meiner Tochter habe ich auch beigebrachtnicht mit den fingern auf fremde zu zeigen. Bei meinen Sohn geht das nicht so gut. Er fragt dann nach den warum und wie er mir sonst die unheimlichen Menschen zeigen soll. o.O
    Zur Situation allgemein, z.b. unheimliche Menschen und Dinge die Angst machen, versuche ich auch immer so gut wie es geht zu erklären und manchmal binde ich die fremde Person mit ein. Da wird gern auch mitgemacht.
    Lg Nicly

  2. Ich finde es toll, dass du so ruhig geblieben bist und ihr das erklärt hast. Ich finde solche Situationen immer so megapeinlich.

    Wenn´s bei uns nur Finger gewesen wäre. Wir standen bei der Post an und der feine Herr (damals 2) kräht aus vollem Halse "Mama, eine Hexe". Eine alte Frau war hereingekommen und stellte sich hinter uns. "Mama, guck. Eine richtige Hexe." Ich drehte mich um. Und – sie sah aus wie eine Hexe. Eine Märchenbuchhexe. Und trug das Blindenabzeichen. Vermutlich hatte sie ein wahnsinnig gutes Gehör. Ich versuchte mir das hysterische Lachen zu verkneifen und zu erklären, dass die eben so ein bisschen aussieht und aber KEINE Hexe ist, sondern eine nette Frau usw.
    Leider hatten wir diese Hexenphase ziemlich lange – jede muslimische Frau im Supermarkt wurde lautstark als Hexe ausgerufen. Eine richtige Hexenjagd war das. Warum müssen die auch in den Büchern alle ein Kopftuch tragen? Aber nach drei Hexen und Erklärungen (diesmal ohne hysterische Lachen) war das rum. Mittlerweile handhaben wir das so, dass er selbst hingeht und fragt, warum der/diejenige anders aussieht oder im Rollstuhl sitzt usw. Dann gibt es kein Getuschel und ich kann das wieso, weshalb, warum sowieso nicht beantworten.

  3. Bei uns erledigte sich das Problem sehr schnell von alleine. Ich habe ein Kind (mittlerweile 9 Jahre), was anders ist. Mein sohn ist entwickllungsverzögert, Sprachentwicklungsverzöger, hat eine hypotone Muskulatur, Aufmerksamkeitsstöruingen, konzentrationsstörungen, einen verminderten IQ und ADHS. Meine Große Tochter (11) ist also ganz normals damit aufgewachsen und emine Kleine Tochter (3) wurde da einfach hineingeboren. dazu kommt das mein mann 2011 einen Schlaganfall erlitten hat. Es ist für die Kinder also ganz normals anders zu sein und z. B. im heilpädagogischen KLindergharten damals noch ganz andere Kinder mit ganz anderen handicaps zu sehen. Da es normal ist, koommen meistens keine fragen und auf andere Leute wird auch nicht gezeigt.

    Im Gwegenteil. ich erinnere mich an eine Szene. Da war die Große 7 und der Sohn fast 5) und da war ein Klassenkamerad, der auf dem Bauernhof hinter uns wohnt, von der Großen da. Und ich hörte nur wie er zu meinem Sohn sagte (Schwester stand daneben): Du bist nicht irchtig im Kopf…. Reaktion meiner Tochter: 1. bekam der Junge ein Ohrfeige..2 kamen die worte: das ist mein ganz normaler BVruder. Der einzige der hier nicht richtig ist, bist du und 3. hat ihn meine tochter gebeten zui gehen und nie wieder zu kommen.

  4. Schön wie ruhig und lieb du mit dem "Problem" umgehst. Ich hoffe wenn es bei uns soweit wird, dass ich die Situation auch so gut manage. Es ist bestimmt nicht immer leicht schnell die richtigen Worte und Erklärungen zu finden, grade so gewählt, dass es das Kind versteht aber die anderen Menschen sich nicht verletzt fühlen.

    Liebe Grüße
    Sina

  5. peinlich war es mir ja auch – zumal ich den armen Mann direkt anstarrte. Aber ich habe versucht, das beste daraus zu machen 🙂 ich finde es eine sehr gute Idee, dass Dein Sohn selber hingeht. Keine Berührungsängste, sondern offen Fragen stellen. <3

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