Wenn ich keine Familie hätte

Es gibt Tage, da wünschte ich mir, ich wär allein. Das sind die Momente, in denen ich nach dem Familienessen das klebrige Gemetzel von Copperfields Essversuchen unter dem Esszimmertisch hervorklaube. Stückchen für Stückchen. Mandarinen, Würstchen, Mangoschlabber, zerfetzte Nudeln, Käse- oder Brotpampe, Brei aller Nuancen. You name it. Ich kauere alleine auf dem Boden, wische mit einem feuchten Tuch über die Fliessen und denke: Das kann‘s doch nicht sein. Es sind die Tage, an denen ich mich endlos mit LadyGaga streite und sie mir vorwirft, sie nicht zu lieben – weil sie nicht TV schauen darf, weil ich nicht das getan habe, was sie wollte, weil ich Copperfield zuerst ein Küsschen gegeben habe. Es sind die Tage, an denen ich mich mit meinem Mann zoffe und wir uns anschweigen anstatt zu reden. Es geht um den Haushalt, die Kinder, irgendwas, das das Fass zum Überlaufen bringt. Wenn ich nach dem Kochen wieder von vorne anfangen kann und die Küche putze, denke ich: ?!?!?!?!?!?!?!!!!!!!!!!!! Dann bin ich im Laufrad des Familienalltags gefangen. Aber wie sähe mein Leben denn aus, ohne meine drei? Ein Gedankenspiel:

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Ich bin erfolgreich im Job, sehr sogar. Vielleicht bin ich nach Deutschland ausgewandert und arbeite in einem grossen Verlag als Verlagsleiterin. Das Angebot hatte ich mal (gut, es war ein kleiner Verlag, aber immerhin!). Ich arbeite hart. Ich habe eine schicke Wohnung ganz für mich alleine. Die Putzfrau kommt einmal in der Woche zum Putzen, weil ich es mir leisten kann. Die Wohnung ist aber nicht durchgestylt, denn das ist nicht mein Geschmack. Aber edel eingerichtet ist die Bude. Weil ich es mir leisten kann.
Abends bin ich meistens erst nach 19 Uhr zuhause. Es wartet ja keiner auf mich. Aber die Arbeit ruft, also bleibe ich länger im Büro, treffe wichtige Leute. Manchmal habe ich eine Affäre, aber es ist nichts Dauerhaftes. Ich lebe lieber alleine zuhause und will meine Ruhe haben. Einsam bin ich trotzdem. Meine Freunde haben alle Kinder und sind verheiratet. Und wenn das nicht zutrifft, haben sie einen Knacks irgendwo. So wie ich? Ich werde nur selten privat eingeladen, und wenn, dann will man mich krampfhaft verkuppeln. Das ist mir peinlich. Ich bin keine Ausschussware! Aber mein Leben alleine langweilt mich schon. Dafür gehe ich jede Woche ins Kino. Das liebe ich. Es ist ruhig. Meine Gedanken sind geordnet. Wenn ich etwas tun will, dann tue ich es. Ohne Unterbruch.
Die Abende sind lang. Wenn ich zuhause bin, surfe ich oder bereite etwas für die Arbeit vor. Ich trinke einen Whiskey. Ich rauche vermutlich wieder. Ich schreibe ständig an meinem aktuellen Roman, nehme an grossen Schreibwettbewerben teil. Ich will endlich den Durchbruch schaffen! Ich bin Schriftstellerin, deshalb bin ich allein. Nur wer leidet, kann gut schreiben, das gehört zu mir. Das bin ich. Das ist mein Opfer für die Kunst. Ich will schreiben. Über die Unmöglichkeit, glücklich zu werden.
Bloggen ist etwas für die kleinen Leute. Jeder kann bloggen. Damit wird man nie bekannt, nie gross. Nein, mein aktuelles Buch ist mein Baby. Die Nächte sind lang vor dem Bildschirm. Aber das muss so. Mein Leben läuft in geordneten Bahnen ab. Ich bestimme über mein Leben und meinen Stundenplan. Manchmal verreise ich spontan für ein paar Tage, einfach weil ich es kann. Und weil mir langweilig ist.

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Die Realität

Gestern war ich auf persönliche Einladung in München beim Netflix-Blogger-Event. Flug und Hotel waren bezahlt. Was für ein Starfeeling! Ein Mojito, vier bis fünf Cosmopolitans und einen Erdbeer-Alkohol-Irgendwas-Shake habe ich getrunken, als wäre ich so was wie eine verdurstende Pflanze. Ohne Familie unterwegs – peace! Als ich heute zurück nachhause kam, empfing mich der Trubel mit offenen Armen und Ohren. Copperfield strahlte mich an, als ich zur Tür reinkam, quietschte und jauchzte vor Begeisterung. LadyGaga fragte sofort nach Geschenken und bedankte sich überschwänglich und überglücklich für ein Pferde-Stickerheft und eine Pumuckl-CD. Copperfield hatte Angst, als wir ihm sein neues Spielzeug, ein kleines, ferngesteuertes Auto (angeschrieben als ab 1 Jahr?!) demonstrierten. Er klammerte sich an mich und ich musste ihn trösten. Mein Mann freute sich über das neue Parfüm, das ich ihm am Flughafen noch schnell gekauft hatte. Und ich freute mich riesig, dass ich meine Erlebnisse mit ihnen teilen durfte. Ich habe ganz tolle Blogger in München kennengelernt: Die Mamamania Cynthia, die wie Anke Engelke klingt (Stimmfarbe und Intonation), die Suse von Ichlebe!jetzt!, die ein Kaffeejunkie und total toll ist, die Andrea von MunichsWorkingMom, die einfach nur powert und MamaSchulze Julia, die eine wahnsinnig positive Ausstrahlung hat und noch viele mehr. Was sind wir alle ausgerastet, als wir in der Goodiebag von Netflix eine geile Selfie-Stange entdeckten, die wir natürlich gleich ausprobierten:
© MeWorkingMom
Nun bin ich wieder zuhause. Ruhig ist es hier wahrlich nicht. Aufgeräumt auch nicht. Es ist wild, chaotisch, voller Liebe und schöner Geschichten. Zufrieden klaube ich klebrige Risottokörner vom Boden auf. Mein Leben ist so, wie es sein sollte.

 

9 thoughts on “Wenn ich keine Familie hätte

  1. Hey,
    Ein toller Beitrag den wir wahrscheinlich alle unterschreiben könnten. Ich war noch nie über Nacht weg von meinem Kind, ich war auch noch nie auf ein Bloggerevent eingeladen.. Aber trotzdem denken wir sicher alle mal so.
    Danke

  2. Tröste dich, ich bin auch einer uns saß zu der Zeit mit dem Selfie Stick in Hamburg.
    So von Kaffeeschwester zu Kaffeeschwester. 😉

  3. Mir ginge es wahrscheinlich ähnlich wie dir, einsam mit langen Abenden zu Hause und Wochenenden an denen ich ins Kino gehe, damit ich nicht alleine bin.

  4. Ach das sieht nach viel Spaß aus, da wär ich auch gerne dabei gewesen! Besonders cool ist der Inhalt eurer Goodiebag, was ich da schon so gesehen habe!

  5. Ja, das waren wahrlich zwei Welten, durch die wir da gehüpft sind. Das hat mich auch zum Nachdenken angeregt. Im Moment gehe ich auch noch 'schwanger' damit durch die Gegend. Mal schaun, was da noch bei mir rauskommt 😉
    Ich fand es auf jeden Fall ganz wundervoll, Dich persönlich kennengelernt zu haben :-). Und ich freue mich schon auf das nächste Mal!

    Meine Schnecken haben mich übrigens gar nicht richtig begrüßt, weil sie nur nach den Mitbringseln geschaut haben…ts ts ts…
    Ich drücke Dich virtuell, JuSu

  6. Deine Gedanken kann ich so gut nachvollziehen und deshalb freue ich mich jetzt auch schon sehr auf meinen neuen Job! Dann kann auch mal jemand anderes unter dem Tisch rumkrauchen und die Essensreste vom Boden kratzen oder sich mit übelgelaunten Kindern beschäftigen! Nach 4 Jahren Stay-at-home-Mum wird es für mich höchste Zeit…

    Scheint ja ein lustiger Abend auf dem Blogger-Treffen gewesen zu sein 😉

    Liebe Grüße aus London,
    Uta

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