Sentimentalitäten einer 38-Jährigen. Kann das weg?

Plötzlich erinnere ich mich wieder daran, wie es war, als ich mit meinem ersten richtigen Freund zusammen war. 1994. Ich meine nicht nur Augenblicke, Gedanken, Erinnerungen. Ich spüre die Aufgeregtheit des ersten Verliebtseins wieder in mir. Ich lese in alten Notizbüchern (und davon habe ich viele), dass ich 2002 einen One-Night-Stand hatte. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern. Er war also nicht gut. Den Milleniumwechsel verbrachte ich mit meinem damaligen Freund in Montreux am Genfer See. Es sollte etwas Besonderes sein. Wir kauften billigen Schaumwein und tranken ihn warm an der Promenade des verschneiten, eiskalten Genfersees stehend. Wir stritten. Und auch der Sekt war Scheisse. Ich fühlte mich so ohnmächtig in dieser Beziehung. Kurze Zeit später machte er Schluss mit mir; ich wollte nicht mehr leben. An dieses Gefühl erinnere ich mich ganz genau. In Paris, wo ich zu Studienzeiten mehrmals im Jahr war, verliebte ich mich in romantischer Weise in einen Antiquitätenhändler. Aber ausser einer harmlosen Flirterei wurde nichts daraus. Zum Glück – er war bereits geschieden und hatte Kinder. Vor kurzem traf ich auf einer beruflichen Veranstaltung völlig unerwartet einen ehemaligen Schulkollegen. Er war damals der beste Freund eines Jungen, der 1994 – eben als ich meinen ersten Freund hatte – unsterblich in mich verliebt war. Er schrieb mir schmachtende Liebesbriefe, legte rote Rosen in den Briefkasten meiner Eltern. Das war so romantisch! Der Kollege erzählte mir an der Veranstaltung lachend: «Ihr wart ja damals zusammen!» Nein, waren wir nicht, ich war ja mit meinem ersten Freund zusammen. Erinnerung, Wunschdenken, Verdrängen, Realität – das alles verschwimmt mit den Jahren immer mehr. Erinnerung ist subjektiv. Da gab es diesen Italiener, den ich 2005 in Spanien kennenlernte und der mir solche Angst machte, dass ich heute noch diese Beklemmung in mir spüre. Wenn ich unsere alte Korrespondenz lese, denke ich, er war einfach mit Haut und Haaren verliebt. Ein Napoletaner! Auf der anderen Seite erinnere ich mich, wie er vor Wut eine Tür im Zug zerschmetterte. Ich stand zitternd daneben. Ja, ich hatte Glück, damals. Mehr Glück als Verstand. Ich sass in Mailand fest und er hatte meinen Pass beschlagnahmt. Und selbst während ich das schreibe, spüre ich, wie sich mein Hals zuschnürt. Nur sehr wenige Monate später lernte ich meinen Mann kennen und kam endlich an. Ich legte mein altes Leben ab wie eine alte Haut und wurde Partnerin, Ehefrau, Mutter. Und glücklich.

Ich vermisse nichts – nur die Zeit. Ja, die Zeit ist mir mit dem Erwachsen werden abhandengekommen. Früher konnte ich spontan in eine fremde Stadt reisen, einfach so, weil ich nichts anderes vorhatte. Früher dauerte ein Vorspiel gerne Stunden. Ich hatte Zeit für Tagträume. Ganze Nächte habe ich Whiskey und Rotwein trinkend und rauchend am PC verbracht, um einen neuen Roman zu schreiben. Mein Kopf war frei, ich war niemandem verpflichtet. 2015 hingegen war mein Leben durchgetakted: Kinder für die Vorschule und die Kita vorbereiten – arbeiten – an Geldsorgen herumstudieren – arbeiten – Krankheitsausfälle beim Mann – kochen – kochen – kochen – Kinder bespassen – Kinder ins Bett bringen – arbeiten – arbeiten bis in die Puppen – aufräumen – schnell mal eine Ecke im Haus ausmisten – einkaufen – organisieren – erledigen – schnell dies und das machen. Es fehlt die Zeit an allen Ecken. Jeder einzelne Tag ist vollgequetscht mit irgendwelchen To-Do‘s. 2016 wünsche ich mir nun nicht mehr Zeit, das wäre utopisch. Zeit ist als Mutter Mangelware, wem will ich da was vormachen. MeTime ist auch immer knapp und begrenzt. Das muss wohl einfach so.

Ich vermisse nichts. Und doch bin ich gerade etwas gefangen in meinen Sentimentalitäten, noch einmal so zu fühlen wie mit 18. Noch einmal für eine Liaison alles riskieren! Dann sehe ich meinen Sohn an, der sich lachend in meine Arme wirft. Mein Mann, der mein Fels in der Brandung ist und für den ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde. Und wenn ich meine Tochter sehe, blicke ich oft in einen Spiegel. Wir schauten im Dezember im TV die erste Staffel der «Märchenbraut», einer tschechischen Kinderserie von 1981, die ich geliebt habe. LadyGaga war gefangen von der kindlichen Romantik und seufzte und jauchzte verträumt mit. Und wisst ihr was? Genau so habe ich mich in den 1980ern gefühlt, als ich die Märchenbraut zum ersten Mal sah. Und mir wurde klar: Eines Tages wird LadyGaga die gleichen oder ähnlichen Erfahrungen machen wie ich. Sie wird Herzschmerz spüren und 1000 Schmetterlinge im Bauch. Wird verbotene Dinge tun und sich ausprobieren. Wird vielleicht weinend im Regen tanzen, Nächte durchfeiern, viele Frösche küssen. Und auch mal mehr Glück als Verstand brauchen. Mit ihr werde ich alle meine alten Gefühle nochmals durchleben können dürfen müssen. Wenn ich mir also etwas für die Zukunft wünsche, dann das: Ich möchte ihr in dieser aufregenden Zeit beistehen dürfen. Ich verspreche, immer für Dich da zu sein, LadyGaga! Ich fange Dich auf!

Und für den Rest gilt: Sentimentalitäten in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr sind ausdrücklich erlaubt. Weitermachen!

3 thoughts on “Sentimentalitäten einer 38-Jährigen. Kann das weg?

  1. Aber ja, Sentimentalitäten sind erlaubt und nicht nur zwischen Weihnachten und Neujahr! Unsere Gedanken und Erfahrungen haben uns ja zu dem Menschen geformt, der wir heute sind und uns gab es ja schon etwas länger bevor wir (Ehe)Partnerinnen und Mütter wurden. Toller Beitrag, der auch meine "Jugend" aufleben lässt. Ich bin froh um jede Erfahrung, auch um die schlechten, bei denen ich (meist aus Liebeskummer) viele Tränen vergossen habe, denn auch diese waren wichtig, um meine Persönlichkeit zu formen. Mein jetziges Leben hat mit meinem alten wenig gemein und trotzdem bin ich immer noch ich. Eine vielleicht langweiligere Version von früher, die sehr vernünftig ist, nicht mehr raucht, nicht mehr so viel trinkt, die Nächte nur noch mit dem Baby durchmacht ;-), aber dennoch soviel glücklicher ist als zuvor, weil ich nun endlich angekommen bin. Deine Gedanken, dass deine Tochter auch ihre Erfahrungen machen wird, kann ich sehr gut nachvollziehen, das beschäftigt mich schon jetzt, obwohl sie erst 10 Monate alt ist. Aber vielleicht kann ja die alte Mama mit einigen Ratschlägen dienen und die Taschentücher reichen, trösten und einfach nur da sein. Das wäre schön. Ich grüße Dich herzlich! Anna

  2. Liebe Anna, genau so ist es. Ich sehe mich auch als langweiligere Version meiner selbst von früher, vermutlich ist es genau das, was mich so nostalgisch werden lässt. Ich war doch mal so hipp! Heute ist das nur noch eine Babybreimarke für mich.

  3. Hachz… Ja, manchmal, wenn ich die Augen schließe und mal niemand "MAMA!" brüllt, bin ich auch wieder jung und wild, ohne Verpflichtungen, mache auf dem Motorroller die Gegend unsicher und lasse mir während des Einkaufens Zettelchen an den Helm stecken mit einer Telefonnummer und "hey, ich würde dich gerne kennenlernen"…. Thanks for sharing! P.S. Die Geschichte mit dem Pass lässt mir das Blut in den Adern gefrieren :/

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