Salto Mortale Teil IV

Momentan komme ich nicht zum Bloggen, deshalb hier Teil IV des Romans, der bereits bis Teil V fertig geschrieben ist. Aber ich blogge diese Woche noch zu Familienthemen, versprochen!

***

Amelia betrat vor Philipp die Spielhalle und linste über seine Schulter hinweg zurück in die Vorhalle. Dort stand Antonio an eine der Säulen gelehnt. Sie konnte seinen Blick nicht deuten. War er düster? Sie streckte den Hals, um ihn besser zu sehen, die Ankunft einer grossen Gruppe Asiaten verhinderte aber die weitere Sicht auf ihn.

Die Türe schloss sich.

Sie sog alles in sich auf. So gross war der Saal gar nicht. In der Mitte befanden sich lediglich vier Tische, Roulette und Black Jack, soweit sie das erkennen konnte. Der Raum war überfüllt mit Menschen jeglicher Herkunft, welche die Sicht auf die Tische beinahe komplett versperrten. Für 10 Euro Eintritt hatte sie eigentlich mehr erwartet. James Bond in „Casino Royal“ fiel ihr ein. Vielleicht gab es ja noch Nebenräume, die man als normaler Bürger nicht so einfach zu Gesicht bekam? Oder vielleicht sahen sie aufgrund der Menschenmasse einfach nicht alles?

„Lass uns zuerst den ganzen Raum begutachten, bevor wir uns für einen Tisch entschliessen, ja?“ Philipp nickte. Auch ihm war die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Als Kompensation für seine Magenschmerzen hatte er offensichtlich mehr erwartet.

Sie liefen nach rechts um die Tische herum. Alle Gesichter waren auf die Spieltische fokussiert, jeder einzelne Spieler schien die Zahlen oder die Karten hypnotisieren zu wollen. Und obwohl der Saal voll war, herrschte eine atemlose Stille. Zu gerne hätte Amelia mitgespielt, das Glück herausgefordert. Aber sie traute sich nicht. Bestimmt würde man sofort erkennen, dass sie blutige Anfängerin war und das Glücksspiel nur vom Fernsehen her kannte. Sie seufzte.
Hinten rechts fanden sie einen Durchgang zu einem weiteren Zimmer, in dem nur Slotmaschines standen. Dieser Saal stellte sich bereits nach einem kurzen abschätzenden Blick als verlassen heraus. Es schien hier wohl nur zwei Extreme zu geben: zu voll – zu leer. Wie langweilig. Sie drehte sich ab, ohne darauf zu achten, was Philipp wollte.

Lass mich in Dein Herz.

Sie spürte immer noch das Fieber in sich, sie musste etwas dagegen tun. Sie fühlte Antonios Lippen auf den ihren, schmeckte seinen Atem, sein Aftershave.

Ich spüre das Gleiche wie Du.

Hinten im Raum, etwas abgegrenzt, befand sich die Kasse. Hier konnte man also seine Gewinne gegen Bares umtauschen. Oder Bares in Chips wechseln. Sie lief weiter nach links, Philipp im Schlepptau. „Suchst Du etwas?“, rief er ihr irritiert hinterher. Doch sie antwortete nicht. Die weiteren Türen, die den Raum säumten, waren verschlossen.

Ich werde Dir zeigen, was Leben heisst.

Enttäuscht gelangte sie an den Ausgangspunkt zurück. Von Antonio keine Spur.

Sie straffte die Schultern und lief zielstrebig zurück zum ersten Roulette-Tisch, wo sie in der zweiten Reihe stand, das Geschehen am Tisch aber genau verfolgen konnte. Philipp stand mit einigem Abstand hinter ihr.

„Faites vos jeux.“ Fasziniert beobachtete sie den Croupier, der ihr gegenüberstand und auf Zuruf der Spielenden fachmännisch die Chips stapelte, sie verschob und ins rechte Licht rückte. Zu seiner Rechten stand ein Mann mit Halbglatze, sie schätzte ihn auf um die 50, der sich hektisch übers Gesicht fuhr, nachdem er selbst mehrere Chips auf dem Spielfeld verteilt hatte. Es schien ihm wichtig zu sein. Die Kugel rollte. Alle schauten auf das Roulette, sahen zu, wie die Kugel zu hüpfen begann, als sie langsamer wurde.

„24 noir et pair“, rief der Croupier mit lauter Stimme. Der Mann neben ihm fluchte. Er hatte offensichtlich nicht auf die 24 gesetzt. Blitzschnell verteilte der Croupier das Geld an die Personen, die gewonnen hatten, indem sie auf die Zahl, auf Schwarz oder auf Gerade gesetzt hatten, und sackte dann den Rest für die Bank ein. „Die Bank gewinnt immer“, zischte Philipp von hinten in Amelias Ohr. Er hatte sich zu ihr vorgearbeitet, doch Amelia ignorierte ihn.

Fasziniert beobachtete sie die Szene vor sich. Die Stirn des Glatzköpfigen glitzerte vor Schweiss. Er griff sich ans Herz – mein Gott, ging es ihm nicht gut? – und holte dann eine Geldbörse heraus, warf theatralisch vier 500-Euro-Scheine auf den Tisch. Ohne mit der Wimper zu zucken oder nachzufragen, wechselte ihm der Croupier das Geld in Chips. Er kannte solche Szenen wohl nur zu gut. Amelia jedoch beobachtete weiter. Sie sah, wie der Schweiss sich langsam formierte und dann über die linke Wange des Mannes nach unten lief, als er seine Chips erneut auf dem Spielfeld verteilte. Seine wenigen Haare wirkten mittlerweile zerzaust. Sein Anzug war von minderer Qualität und sass nicht richtig, er konnte es sich unmöglich leisten zu verlieren. Er schien zu überlegen. Hatte er dasselbe gedacht? Er stockte, dann verschob er alle Chips auf Rot. Bereits rollte die Kugel wieder.

„Rien ne va plus.“ Sie sah die Zahl nicht, hörte nur das Aufstöhnen der Masse. Es war die 8 – schwarz. Der Mann rang nach Fassung, dann fluchte er wild gestikulierend und beschimpfte alle um sich. Wieder und wieder fuhr er sich übers Gesicht, strich sich über die glänzende Glatze. Amelia konnte seinen Schock nachvollziehen und hatte Mitleid mit ihm. Wie konnte man bloss sein ganzes Geld so leichtfertig aufs Spiel setzen?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, blickte er ihr geradewegs und wütend in die Augen. Sie wollte seinem Blick ausweichen, sich abwenden, doch da machte der Mann auf dem Absatz kehrt und verschwand. Wo er gestanden hatte, war nun ein leerer Platz. Sein Platz war frei. Frei! Sie wollte spielen. Sie wollte spüren, wie das Adrenalin in ihre Venen schoss. Sie wollte etwas riskieren.

Ohne Philipp zu fragen oder zu schauen, wo er blieb, schob sie sich durch die Körperansammlung hindurch, bis sie gegenüber von ihrem vorherigen Platz stand – direkt neben dem Croupier, der sie freundlich anlächelte. Sie wusste nicht, was sie nun zu tun hatte, um dabei zu sein. Würde man sie mitspielen lassen? Sie roch den Geruch der Angst, den sie ausstrahlte. Musste sie sich einkaufen? Der Eintritt hatte ja schliesslich auch etwas gekostet. Der Croupier lächelte sie immer noch freundlich an, schien sie beruhigen zu wollen, oder bildete sie sich das nur ein? Was wusste der schon vor ihr. Sie hatte die Blicke der Masse auf sich. Ob Antonio auch da war? Wieder spürte sie Hitze in sich aufwogen, doch diesmal war es die Nervosität. Die Röte stieg ihr ins Gesicht, und sie ärgerte sich über sich selbst und ihren Körper, der sie verriet. Unschlüssig blieb sie stehen.

„Möchten Sie spielen, Madame?“ Der Croupier zeigte auffordernd auf den Platz neben sich, an dem vorhin gerade noch ein schwitzender Mann gestanden hatte. Sie konnte nachvollziehen, warum der Croupier lieber sie neben sich stehen hatte. Ohne weiter nachzudenken, griff sie nach der Stuhllehne und setzte sich hin. Es gab kein Zurück mehr. „Ja, ich möchte spielen, aber ich habe das noch nie gemacht. Kann ich das Geld direkt bei Ihnen wechseln?“ Er nickte ihr bestätigend zu, während er bereits die Chips der anderen auf dem Spielfeld entsprechend ihren Zurufen verschob. Ein Multitasking-Mann, wo gab es denn so etwas.

„Wie viel möchten Sie wechseln?“

Sie überlegte und sah aus den Augenwinkeln, wie immer mehr Chips auf dem Spielfeld landeten, kreuz und quer wie es schien, und doch in einer Art Choreographie, wenn man die Croupiers beobachtete. Erst jetzt hatte sie bemerkt, dass es zwei Croupiers waren, die am Tisch sassen und die Chips verschoben. Wieder stockte sie, das Bild verunsicherte sie. Was hatte sie überhaupt hier verloren? Doch dann dachte sie an Antonio und das, was er gesagt hatte.
Riskiere.

Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Erleichtert drehte sie sich um. Doch es war nicht Antonio. Es war Philipp. „Ich bin hier. Riskier nicht zu viel, ja? Wir brauchen das Geld noch für die Rückfahrt.“

Langsam drehte sie sich zurück zum Croupier. Philipp hatte Recht. Aber sie wollte nicht rational sein. „Ich möchte 100 Euro wechseln, wenn dies in Ordnung ist.“ Fragend schaute sie den Croupier an und streckte ihm einen grünen Geldschein entgegen. „Sie müssen ihn auf den Tisch legen, Madame, ich darf ihn nicht aus Ihrer Hand entgegennehmen.“ Ach so ging das. Sie legte das Geld auf den Tisch und versuchte, dabei möglichst routiniert auszusehen. Der Croupier lächelte immer noch maskenhaft. Das musste anstrengend sein.

Er nahm das Geld. Mit einem einzigen Griff in die Chipkiste hatte er die entsprechende Anzahl 5-Euro-Chips griffbereit und zählte sie dekorativ vor Amelia nochmals ab, indem er sie in Blöcken auf das grüne Filz fallen liess.

Im gleichen Moment hörte sie schon sein „Faites vos jeux.“ Riskieren. Sie nahm sämtliche Chips und schob sie instinktiv auf die 24 – ihre Glückszahl.

Wie in Trance beobachtete sie die Kugel, die ihre Kreise zog. Immer noch wurden Chips platziert. Siedend heiss fiel ihr ein, dass die 24 doch gerade vor wenigen Minuten erst gefallen war, die Chancen waren viel zu klein für einen Wiederholungstreffer. Sie wollte gerade ihre Chips nochmals verschieben, als sie das dunkle „Rien ne va plus“ des Croupiers wie aus weiter Ferne hörte. Sie hatte verloren. Die Kugel wurde langsamer, hüpfte als Murmel im Zickzack über die Zahlen. Amelia hielt den Atem an.

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Teil III verpasst? Dann hier entlang

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