Der letzte macht das Licht aus

«Bist Du traurig, dass sie tot ist, Mami?»

Ja, das bin ich. Meine Grosstante, die Schwester meiner 2011 verstorbenen Oma, ist diese Woche 92-jährig gestorben.

Ich hatte sie nochmals besuchen wollen, schon lange stand das auf dem Plan. Aber es kam immer wieder etwas dazwischen, denn das Dorf, wo sie fast ihr ganzes Leben lang zusammen mit meiner Grossmutter gewohnt hat, liegt über drei Stunden von uns entfernt in den Vogesen in Frankreich. Mit zwei Kindern ist das kein kurzfristiger Ausflug, sondern eine regelrechte Expedition.

Ich hätte sie besuchen sollen.

Ich bin traurig, dass ich sie nicht mehr gesehen habe. Sie gehörte zur Familie. Sie hatte nie eine eigene Familie, keinen Mann und keine Kinder. Sie hatte die Familie ihrer Schwester. Uns. Und nun ist sie ganz alleine und bettlägerig in einem Altersheim friedlich eingeschlafen.

Sie ist die letzte der alten Garde, die von unserer Familie gegangen ist. Schon sehr bald wird sie auf dem wunderschönen Dorffriedhof, den ich erst kürzlich hier unter Punkt 509 beschrieben habe, neben meinen Grosseltern und Urgrosseltern ihre letzte Ruhe finden.

Ich bin froh, ist sie zu den Ihren heimgekehrt, denn die letzten Jahre hat sie nur noch aufs Sterben gewartet. Alle ihre Freunde waren bereits von ihr gegangen. „Der letzte macht das Licht aus“ – der letzte war SIE.

Macht euch das auch etwas beklommen?

Sie war eine alte Jungfer. Als Kind hat sie sich an einem Ofen die Wange verbrannt; seither hatte sie eine sehr grosse, verunstaltende Brandnarbe im Gesicht. Ich kannte sie nie anders. Ob sie deshalb nie geheiratet hat? Stattdessen hat sie meine Urgrossmutter bis zu deren Lebensende gepflegt und auch bei ihr gewohnt. Und als meine Oma pflegebedürftig wurde (sie war fast blind und schwerhörig), hat sie sich um sie gekümmert.

Sie hat ein Leben voller Aufopferung geführt und sich dennoch nie beklagt. Hat in einer Fabrik gearbeitet und zeitlebens Geld gespart und nicht ausgegeben. Für was?

Sie hat mir das Karten spielen beigebracht und war Weihnachten zusammen mit meiner Oma immer mit uns Kindern zusammen in meinem Elternhaus. Wir haben bis zuletzt immer wieder mal telefoniert, sie hat sich nach den Kindern erkundigt und freute sich über Fotos, die ich (ehrlich gesagt unregelmässig) schickte.

Sie war eigenbrötlerisch. Ein Kriegskind, das keinen Brotkrümel wegwarf und alles hortete. Sie sah sich immer im Recht und konnte mit Vorwürfen um sich hauen, dass es einem wehtat. Sie war zäh. Sie war sicher einsam. Sie war die letzte, die das Licht ausmachte.

Sie ist tot.

Ich bin froh, dass Du endlich wieder mit meiner Oma vereint bist. Sie hat auf Dich gewartet, das weiss ich. Und ich bin so froh, habe ich eine eigene Familie. Ich möchte nicht alleine alt werden. Ich möchte nicht alleine sterben. Was von mir übrigbleiben wird, sind meine Kinder.

Ich hab Dich lieb. Eines Tages werden wir uns wieder sehen.

 

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6 thoughts on “Der letzte macht das Licht aus

  1. Oh man sowas ist hart, aber lass dich nicht von Vorwürfe auffressen. Du hast nun mal dein Leben, deine Kinder & sie wird es sicher gespürt haben das du oft an sie gedacht hast. Geliebte Menschen spüren sowas nämlich immer, sie merken es an unsere gesten, unsere Stimme & sie haben immer Verständnis für uns. <3
    & ihr Leben, was für uns traurig & unvollstellbar wäre, war sicher voll mit wundervollen Gesichten. Gesichten von der Liebe, von einer Familie, von tränen & glück.
    92 Jahre, ein Traum von alt werden.
    Hab sie noch lange im Herzen & erzähle ihre Gesichten, dann wird sie noch lange weiter leben. <3
    Euch viel Kraft! <3

    Lg Nicky

  2. Ich drück dich. Und ich kenn das Gefühl… meine Oma ist im April gestorben… an mich und das Wanderindli konnte sie sich nicht mehr erinnern… hach… sie ist jetzt auch bei ihrer Mama die sie am Schluss oft gesucht hat…

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